Eröffnung: Freitag, 19. Oktober 2024, 18 Uhr
Begleitveranstaltung: Lesung mit Torsten Harmsen am Samstag, 14. Dezember 2024, 16 Uhr
Zum Jahresabschluss zeigt die Galerie Bernau eine Retrospektive des Fotografen Micha Winkler. Über vier Jahrzehnte dokumentierte er mit seinem insbesondere durch Authentizität geprägten Stil die Welt um ihn herum und hinterließ ein reichhaltiges Werk, ein einmaliges Zeugnis zahlreicher Umbrüche und Neuanfänge.
Autorin des Katalogtextes und Weggefährtin Petra Schröck beschreibt:
Unaufdringlich entfalten die Fotografien von Micha Winkler ihre poetisch narrative Stärke. Er nimmt die Momente als distanzierter Beobachter und zugleich als Beteiligter wahr, aber er sucht nie nach vordergründiger Sensation. Seine sozialdokumentarischen Bilder gehören nicht zu denen, welche Aufmerksamkeit durch das Aktionistische oder das Sensationelle auf sich ziehen wollen. Die visuelle Essenz bewährt sich am Selbstverständlichen, an den beiläufigen und doch bedeutsamen Augenblicken des Lebens, was Beobachtungsgabe, Zugewandtheit und Menschenkenntnis voraussetzt. Stets war er offen für alles, berichtete gern aus dem reichen Fundus seiner Erfahrungen, eine ausgeprägte schöpferische Neugier schien in seinem Wesen angelegt zu sein. Als Gesprächspartner und eloquenter Workshopleiter war er in seinem Element, die Teilnehmer*innen profitierten durch sein enormes Fachwissen und seine praktischen Ratschläge. Micha war immer bereit auf spezifische Fragen zur Fototechnik verständlich und ausführlich zu antworten - ein sprudelnder Quell der Fotogeschichte.
Winkler arbeitete in Themengruppen, dabei fand er eine erzählerische Ästhetik und gibt den Betrachtenden Raum für eigene Interpretation. Seine Kunst setzt im Alltag an, so fotografierte er in den 1980er Jahren seine Arbeitswelt der VEB Gummiwerke Berlin mit seiner Praktika-Kamera und entwickelte die Bilder in der häuslichen Dunkelkammer. Als Mitglied des Fotozirkels Ernst-Thälmann-Park erhielt er Zugang zu den Werkhallen des VEB Elektrokohle und lieferte seltene Einblicke in die staubige sozialistische Produktion. Auch die Reihe der Bäuerinnen an der Kartoffelsortiermaschine der LPG Pflanzenproduktion im mecklenburgischen Severin zeigt die harte Realität der Plan- und Fließbandarbeit. Seine Bilder zeigen zwischen Kritik und Humorhaftigkeit vor allem Menschlichkeit.
Straight photography beschreibt eine dokumentarische Bildsprache, die realistische Wirklichkeitswiedergabe und emotionale Ansprache miteinander verbindet. Winkler steht in der Tradition dieser sozialdokumentarischen Fotografie, indem er zwiespältige Arbeits- und Lebensumstände und Risse der Gesellschaft jenseits staatsideologischer Forderungen nach Parteilichkeit ablichtete. Mit seinen Arbeitswelten DDR und den Erfahrungen seiner beruflichen Herkunft reiht er sich in die Tradition der Arbeiterfotografie der Weimarer Republik ein.
Die Wiederkehr bestimmter „gewöhnlicher“ Motive, genauestens beobachtet – mit oder ohne Augenzwinkern – zeichnet die engagierte Fotografie der letzten DDR-Jahre aus: menschenleere Straßen, zerfallene Bausubstanz, spielende Kinder, Arbeiter und einsame Rentner, Menschenschlangen, Festivitäten, Fackelzüge und Rummelplätze, Parolen, Schaufenster und Brandmauern. Offizielle Feste, Paraden und Aufmärsche finden sich in der Themengruppe Der Staat läßt feiern. In den Bildern 35 Jahre Kampfgruppen der DDR von 1987 unterläuft Winkler durch schräge Bildachsen, ungewöhnliche Perspektiven und rasante Bildausschnitte die militärische Ordnung von Reih und Glied.
Nach Ende der DDR begleitete Winkler die sogenannten Transformationsjahre mit seiner Linse. Sein Werk bleibt einer kritischen Befragung der (kapitalistischen) Wirklichkeit treu, in der die Armen, Kranken und Schwachen auf der Strecke bleiben. Die Bilder bringen aufgeregte Zeiten, die heute fast vergessen sind, wieder nah.
Im Kulturhaus Peter Edel in Weißensee erlebte der Fotograf zahlreiche Punk -und Jazzkonzerte, so entstand über mehrere Jahre die Themengruppe der dortigen Konzertreihe Edel Jazz, auf deren Bildern er durch das Spiel mit langen Belichtungszeiten und Unschärfen die Atmosphäre einfing. Als freiberuflicher Lokalzeitungsfotograf für die Bernauer Ausgabe der Märkischen Oderzeitung dokumentierte Winkler in den Zehnerjahren besondere Anlässe und Festivitäten, wie das Schwertkämpfertreffen mit Wikingern und Rittern oder die Einweihung eines Einkaufszentrums. In diesen Auftragsarbeiten zeigt sich erneut seine sensitive Beobachtungsgabe und seine Intention mit den Bildern auch Fragen aufzuwerfen.
Ab Mitte der 90er Jahre begann Micha Winkler fotografisch freier zu experimentieren. Mit eigenhändig gebauten Fotokästen jeglicher Größe praktizierte er die älteste Fototechnik der Camera Obscura. Er wollte das Leben in seiner Flüchtigkeit einfangen und mehr ins Fließende transportieren, jenseits des fotografischen Abbildes. Durch lange Belichtungszeiten von vierzig Sekunden bis zu fünf Minuten verschwimmt jegliche schnelle Bewegung und die Illusion einer entschleunigten stillgelegten Welt entsteht. Die Bilder schaffen eine Stimmung und Magie, die nur Lochkameras eigen ist - jedes wird zum Unikat. Micha Winklers Bilder stellen Verbindungen zwischen innerem und äußerem Raum her und bilden ein bewusstes Statement gegen das Tempo digitaler Aufnahmetechniken. Er hielt nicht nur für die Nachwelt die Vergangenheit fest, sondern im experimentellen Umgang mit (Un-)Sichtbarkeit schuf er ein sinnliches Wahrnehmungserlebnis von zeitgenössischer Kraft.
Im Rahmen dieser Retrospektive sind weitere Werke im Kantorhaus sowie im Rathaus Biesenthal ausgestellt.